Evergrande: Immobiliengigant aus China droht Kollaps - mit internationalen Folgen

Chinas zweitgrößter Immobilienentwickler Evergrande steht vor dem Aus. Gewachsen auf der Welle des Immobilienbooms, werden ihm Expansion und Verschuldung zum Verhängnis.
Shenzhen/München - Vom erfolgreichen Immobilien-Entwickler und glamourösen Eigentümer des erfolgreichsten Fußballclubs in Asien zum insolventen Problemkonzern: Chinas zweitgrößter Immobilien-Entwickler Evergrande hat einen beispiellosen Sturzflug hinter sich. Das Unternehmen hat den weltgrößten Schuldenberg der Branche angehäuft: Mehr als 300 Milliarden Dollar. Am Montag stürmten rund 100 Anleger den Evergrande-Hauptsitz im südchinesischen Shenzhen* und verlangten überfällige Zahlungen. Bilder auf dem Microblog-Dienst Weibo zeigten Menschenmengen, die in der Firmenlobby einen Manager bedrängen und die Szene mit ihren Smartphones filmten.
Im benachbarten Guangzhou umzingelten wütende Wohnungskäufer ein Amt und forderten den Weiterbau an einer stillgelegten Evergrande-Baustelle. Sie haben - wie in China* üblich - hohe Anzahlungen geleistet, Jahre bevor ihre Apartments bezugsfertig sind. Nach Daten des Analyseunternehmens REDD Intelligence sind fast 800 Evergrande-Projekte in ganz China noch unvollendet. Bis zu 1,2 Millionen Kunden warten laut REDD derzeit darauf, in ihre neue Wohnung zu ziehen - und fürchten nun, dass das nie möglich wird. Die meisten Wohnungskäufer haben sich in Erwartung immer weiter steigender Immobilienpreise hoch verschuldet - auch weil Wohnungsbesitz in China zu den wichtigsten Lebenszielen gehört.
Jeden Dienstag muss Evergrande der Hongkonger Börse, wo es gelistet ist, Zeugnis ablegen. Vergangene Woche räumte das Unternehmen dabei ein, dass der Konzern zahlungsunfähig werde, wenn er nicht unverzüglich Zugang zu Liquidität bekomme. Diesen Dienstag folgte die Prognose, dass der Umsatz im September weiter zurückgehe und man bei dem Verkauf von Unternehmensteilen nicht weiterkomme. Gründer Xu Jiayin muss sein Konglomerat zerschlagen, um zumindest einige seiner Schulden bedienen zu können. So sucht er unter anderem für die verlustreiche Elektroauto-Sparte einen Käufer.
Evergrande-Absturz: Die Finanzwelt fürchtet Pleite und Umschuldung
Die Welt fürchtet nun einen Zusammenbruch des Konzerns. Seit Jahresbeginn ist der Aktienwert des Konzerns um drei Viertel gefallen. Internationale Rating-Agenturen wie Fitch stuften Evergrande-Anleihen auf Ramschniveau herab. Fitch erklärte, eine Pleite des Unternehmens „erscheint als wahrscheinlich”. Eine Umschuldung scheint unausweichlich. Denn derzeit kann Evergrande weder Banken noch seine Lieferanten bezahlen.
Die größte Gefahr für internationale Investoren stellen dabei die ausstehenden Anleihen des Unternehmens dar. Der Finanzdienst Bloomberg verglich das Szenario bereits mit der dystopischen Erfolgsserie “Die Tribute von Panem” und deren Hungerspielen um Leben und Tod. Denn solange Evergrandes Anleihen nicht tatsächlich in Zahlungsverzug geraten, könne Xu wählen, an wen er zuerst zurückzahlen möchte. Wer am lautesten politisch korrekte Parolen herausposaune, auf sozialen Medien agitiere oder mit Straßenprotesten drohe, werde wahrscheinlich zuerst ausgezahlt, mutmaßt Bloomberg. Ausländische Anleger werden das wohl kaum sein - sie genießen nach Ansicht von Finanzexperten eher eine nachrangige Priorität. Anders Lieferanten oder Angestellte, die Evergrande über Jahre zum Kauf von Vermögensprodukten einer Tochterfirma namens Evergrande Wealth überredete: “Es ist in Ordnung, wenn ich nichts mehr habe - aber Anleger von Evergrande Wealth können nicht ohne etwas zurückgelassen werden”, sagte Xu Jiayin laut Bloomberg am Freitag. Analysten gehen davon aus, dass Käufer von Evergrandes Dollar-Anleihen dagegen nur ein Viertel ihres Investments zurückbekommen.
Und auch Kooperationspartner sind gefährdet. So betreibt Evergrande seit 2020 mit dem deutschen Autozulieferer Hella ein Joint Venture in Shenzhen zur Entwicklung und Produktion von Batteriemanagement-Systemen. Noch im Juni verkündete Hella - das seit August zum französischen Konzern Faurecia gehört - eine Ausweitung der Kooperation. Auch gründete Evergrande 2019 mit dem deutschen Antriebsspezialisten Hofer Powertrain ein Gemeinschaftsunternehmen mit Sitz in Berlin. Was aus diesen Joint Ventures wird, ist völlig ungewiss.
Chinas Evergrande: Too big to fail?
Eigentlich ist Evergrande ein typischer Fall von „too big to fail“ - zu groß, um zu scheitern. Sein Scheitern würde Chinas Immobilienmarkt erschüttern; es würde Banken sowie Millionen Wohnungsbesitzer treffen. Der Fall Evergrande ist zugleich ein Fanal für die Branche, die durch den Bau riesiger Wohnanlagen auf Pump sowohl die Kredit- als auch die Baubranche des Landes aufgeheizt hat. Die Wohnungspreise stiegen vor allem in Großstädten ins Unermessliche; Kleinwohnungen in neuen Hochhäusern am Stadtrand Pekings* können umgerechnet bis zu 600.000 Euro kosten - und das in einem Schwellenland mit immer noch verhältnismäßig niedrigen Einkommen. Banken gaben den Entwicklern daher Kredit um Kredit. Die steigenden Preise machten es zugleich attraktiver, mit Immobilien zu spekulieren als mit Aktien an der notorisch schwankenden Börse des Landes - was die Preise nur noch weiter weiter befeuerte. Seit Jahren sprechen Experten von einer Blase. Doch geplatzt ist diese nicht - bisher.
Doch es gerieten bereits andere Immobilienkonzerne in den Evergrande-Sog. Etwa der erfolgreiche Bürohaus-Entwickler Soho aus Peking: Eigentlich wollte der US-Investmentriese Blackrock Soho für drei Milliarden US-Dollar übernehmen. Doch am Montag stoppte Blackrock den Deal, und die Soho-Aktien schmierten nach einem Bericht des britischen Guardian um 35 Prozent ab.
Fall Evergrande: Test für Xi Jinping - lässt Peking den Konzern pleitegehen?
Evergrande ist deshalb der bisher schwierigste Test für die Bereitschaft von Präsident Xi Jinping*, überschuldete Unternehmen scheitern zu lassen. Peking schweigt bisher zu dem Fall. Ein Rettungspaket würde stillschweigend einem draufgängerischen Wirtschaften auf Pump seinen Segen geben.
Stattdessen hat Peking schon vor einiger Zeit begonnen, dem Sektor durch Regeln die Exzesse auszutreiben. Limits beim Wohnungskauf - erlaubt ist nur noch eine Zweitwohnung pro Ehepaar - sollen Spekulationen drosseln. Zeitweise beschränkte Peking den Verkauf von Bauland in vielen Städten. Kürzlich führte Peking eine Mietpreisbremse ein. Auch gehen die Behörden gegen die ausufernde Kreditvergabe der staatlichen Banken an die Immobilienunternehmen vor. Das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten der Immobilienfirmen darf nun nicht mehr als 70 Prozent betragen, der Nettoverschuldungsgrad nicht über 100 Prozent liegen. Bereits im April dieses Jahres konnte Evergrande solche Auflagen nicht mehr erfüllen - und bekam daher keine neuen Kredite mehr. Das Drama nahm seinen Anfang.
Evergrandes Xu Jiayin: Gut vernetzter Unternehmer
Dabei ist Evergrande-Gründer Xu durchaus gut vernetzt. Als Xi Jinping im Sommer den 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei* feierte, stand Xu bei den VIPs am Tor des Himmlischen Friedens in Peking. Der Sohn eines Holzfällers ist seit 35 Jahren Parteimitglied. Er investierte in Branchen, die von der Regierung gefördert werden, wie Elektroautos oder traditionelle chinesische Medizin. Er spendet viel Geld für wohltätige Zwecke und teilt Xis Liebe zum Fußball* - wie er durch den Kauf des Fußballclubs zeigte, der fortan Guangzhou Evergrande hieß. Mithilfe teurer Spieler wie Lucas Barrios, der 2012 vom BVB kam, wurde der Club mehrmals chinesischer Meister und gewann Asiens Version der Champions League.
2017 listete das chinesische Magazin Hurun* den heute 62-jährigen Xu als reichsten Mann des Landes, mit einem Vermögen von 43 Milliarden US-Dollar. Doch schon im April 2020 hatte sich dieses Vermögen nach Angaben des US-Magazins Forbes praktisch halbiert - unter anderem wegen Corona und der beginnenden Flaute am Immobilienmarkt.
Evergrande: Durch Expansion entstand undurchsichtigem Konglomerat
1996 hatte Xu - international auch bekannt als Hui Ka-Yan, wie sein Name im lokalen Dialekt seiner Heimatprovinz Guangdong* geschrieben wird - Evergrande in der Provinzhauptstadt Guangzhou gegründet. Das Unternehmen wuchs und besitzt laut einer Unternehmenswebsite heute mehr als 1.300 Projekte in mehr als 280 Städten. Dabei setzte Evergrande vor allem auf gehobenere Wohnanlagen und Einkaufszentren. Steigende Preise und günstige Kredite machten es möglich.
Über die Jahre expandierte Evergrande zudem in unzählige andere Branchen von Mineralwasser, Gesundheitsprodukten bis zur Babymilch; es entstand ein Konglomerat mit Dutzenden Tochterfirmen. Das neueste Prestige-Projekt sollten Elektroautos sein. Die Gesundheitssparte (!) von Evergrande übernahm ein Startup, dann kaufte der Konzern das schwedisch-chinesische NEVS, das aus der Traditionsmarke Saab hervorgegangen war und gründete eine eigene Elektro-Marke namens Hengchi. Sechs Modelle sollte Hengchi bauen, die ersten wurden auf der Automesse in Shanghai im April präsentiert. Nun sucht Xu einen Käufer für die defizitäre Elektro-Tochter.

Es geht auf die Zielgerade der Entscheidung. Evergrande heuerte nach einem Bericht der South China Morning Post nun neben einer Hongkonger Kanzlei auch US-Staranwälte an, die auf spektakuläre Pleiten spezialisiert sind: Die auf Umschuldungen spezialisierte Kanzlei Houlihan Lokey aus Kalifornien betreute auch Lehman Brothers bei deren Zusammenbruch, der vor knapp 15 Jahren die globale Finanzkrise auslöste. Auch Chinas Behörden beginnen, die Finanzen des Konglomerats zu untersuchen. Rettung oder Pleite - diese Frage dürfte bald beantwortet werden. (ck) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA